Berlin – Auch in der 6. Kalenderwoche 2024 hält die Influenzawelle weiter an – in allen Altersgruppen. Schulkinder waren dabei weiterhin am stärksten betroffen, heißt es im aktuellen [Wochenbericht](https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2023_2024/2024-06.pdf) zu akuten respiratorischen Erkrankungen des Robert-Koch-Instituts ([RKI](https://www.rki.de/DE/Home/homepage_node.html)). So erhielten mehr als 50 % der 5- bis 14-Jährigen mit schwerer akuter respiratorischer Infektion (SARI) eine Influenzadiagnose. Zuvor hatte das RKI über Krankenhauseinweisung aufgrund einer Influenzavirusinfektion berichtet, die insbesondere Schulkinder betrafen. Bei den Todesfällen mit Influenzavirusinfektion ist das Risiko anders gelagert: Seit der 40. Meldewoche 2023 wurden 338 Todesfälle mit Influenzavirusinfektion an das RKI übermittelt, 2 Wochen zuvor waren es noch 163. 87 % der Todesfälle gehörten zur Altersgruppe ab 60 Jahren, 8 % zur Altersgruppe 35 bis 59 Jahre. Die Ständige Impfkommission ([STIKO](https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/stiko_node.html)) empfiehlt die Influenzaimpfung bisher nur für Personen (Kinder eingeschlossen) mit Risikofaktoren, Menschen ab 60 Jahren und für Schwangere ab dem 2. Trimenon. Insgesamt sind die Impfquoten bei den empfohlenen Zielgruppen in Deutschland aber zu niedrig. Bundesweit wurde 2021/22 laut RKI eine Impfquote von 43 % bei Personen ab 60 Jahren erreicht, statt der von der Europäischen Union empfohlenen 75 %. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) forderte heute die STIKO aufgrund der Engpässe bei pädiatrischen Intensivbetten auf, nach kritischer Analyse der Datenlage Empfehlungen für RSV- und Influenza-Impfungen für Kinder auszusprechen. Eine Impfung gesunder Kinder entgegen den STIKO-Empfehlungen wird aktuell kontrovers diskutiert. Philipp Schoof: Der kontrollierte Kontakt mit dem Influenzaerreger birgt für das Kind mindestens den Vorteil eines milderen Krankheitsverlaufes Gut aufgestellte Kinder- und Jugendarztpraxen vermögen es, heftig grippeerkrankte Patienten auch über den Verlauf von 14 Tagen gut zu betreuen, sie werden offiziell nicht als „schwerer Verlauf“ bemerkt. Für die Familien ist es dennoch schwer und typischerweise erkrankt in der Folge meist die ganze Familie an Influenza. Nicht von ungefähr sind entsprechende Familien bei uns im Folgejahr die ersten Vorstelligen, wenn der saisonale Impfstoff Ende September verfügbar ist. Im stationären compARI-Survey der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie ([DGPI](https://dgpi.de/)) zeigt sich im Vergleich zu anderen Erregern das „bunteste“ Bild auf die Altersverteilung. Vom Säugling bis Jugendlichen ist alles pro Altersgruppe in nennenswertem prozentualem Anteil vertreten. Die überwiegende Anzahl dieser dokumentierten Verläufe, hätte es Anbetracht vergleichbarer US-Daten geimpft nicht gegeben (Clinical Infectious Diseases, 2019; DOI: [10.1093/cid/ciz075](https://academic.oup.com/cid/article/69/11/1845/5305915)). Gemittelt über Jahre und Saison beträgt der vollständige Schutz 30 % der Impflinge. Der kontrollierte Kontakt mit dem Influenzaerreger birgt für das Kind mindestens den Vorteil eines milderen Krankheitsverlaufes. Es profitiert also auch selbst (_Clinical Infectious Diseases_, 2021; DOI: [10.1093/cid/ciab270](https://academic.oup.com/cid/article/73/9/1722/6193428)). Das führt dazu, dass die Influenzaimpfung nicht nur von der [WHO](https://www.who.int/), sondern von vielen Nationalen Fachgesellschaften für Kinder empfohlen wird. Unter anderem für Säuglinge ab 6 Monate von der American Academy of Pediatrics ([AAP](https://www.aap.org/)) (_Pediatrics_, 2023; DOI: [10.1542/peds.2023-063773](https://publications.aap.org/pediatrics/article/152/4/e2023063772/193776/Recommendations-for-Prevention-and-Control-of)). Dass bei der Verbreitung der Influenza Kinder im Schulalter eine große Rolle spielen, konnte in mehreren Studien gezeigt werden, beispielhaft sei hier die Arbeit von Christopher C. Blyth erwähnt (_Vaccine: X_, 2023; DOI: [10.1016/j.jvacx.2023.100399](https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2590136223001407?via%3Dihub)). Solche Untersuchungen zeigen auch die beachtlichen Effekte, die eine Impfung der gesamten Gesellschaft, also auch der Kinder, auf die Mortalität haben können. In Japan war vor Einführung der Influenzaimpfpflicht der Schulkinder die grippebedingte Mortalität 3-4 Mal höher als in den USA. Durch die Impfpflicht der Schüler konnte von 1977 bis 1994 eine Durchimpfungsrate von 50-85 % erreicht werden: Die Todesraten sanken drastisch ab und das Niveau der USA wurde erreicht (_NEJM_, 2001; DOI: [10.1056/NEJM200103223441204](https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/nejm200103223441204)). Japanische Familien kommen ohne Reminder zur Impfung mit 6 Monate alten Säuglingen in unsere Praxis. Es scheint, als ob die guten Erfolge in der Bekämpfung der Influenza aus jener Zeit im kollektiven Gedächtnis geblieben sind. Daneben gibt es auch Erhebungen dazu, dass eine Influenzaimpfung für Kinder ressourcenschonend für das Gesundheitssystem sein kann, wie eine australische Studie zeigt (_Vaccine: X_, 2023 DOI: [10.1016/j.jvacx.2023.100399](http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2590136223001407?via%3Dihub)). Eine systematische Erfassung der Impfdaten in Form von Impfregistern fehlt uns in Deutschland: Wir sehen oft eine deutliche Differenz der Wahrnehmung zwischen der täglichen Praxis und der wissenschaftlichen Diskussion: Ich kann nur appellieren, dem Beispiel vieler Länder zu folgen und auch die Kinder in die jährliche Empfehlung aufzunehmen. Thomas Mertens: Die Erwartung von positiven Populationseffekten der Impfung von Kindern ist in mehrfacher Hinsicht kritisch zu sehen Einer generellen Impfempfehlung für alle gesunden Kinder muss eine ausreichende Datenbasis zugrunde liegen. Kein EU-Land empfiehlt die Influenzaimpfung für alle Kinder und Jugendlichen (RKI, 09.2023). Eine wesentliche Voraussetzung ist eine individuelle Indikation zur Impfung in dieser Altersgruppe: Benötigt ein gesundes Kind die Impfung zum Schutz vor Influenzaerkrankung in Abwägung von erwartbarer Schutzwirkung und möglichen unerwünschten Nebenwirkungen (siehe unten Punkt 4)? Auch bei Kleinkindern und Schulkindern besteht eine Influenzakrankheitslast. Infektionsraten in dieser Altersgruppe können je nach Saison und kursierendem Influenzasubtyp erheblich sein. Schwere Erkrankungen sind eher selten. Die Daten und Schätzungen aus den Influenzajahresberichten der [AG Influenza](https://influenza.rki.de/) am RKI ergeben für die [Grippesaison 2017/2018](https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2017.pdf) 114 Hospitalisierungen auf 100.000 Kleinkinder und 26 Hospitalisierungen auf 100.000 5-14-Jährige. Kumulativ ergibt sich in den Jahren 2009-2018 auf 1.000 Arztkonsultationen eine Rate von 3 bis 5 Krankenhauseinweisungen bei Kleinkindern und 2 Krankenhauseinweisungen bei Schulkindern. Todesfälle in dieser Altersgruppe machten 2017/2018 zirka 1 % der laborbestätigten Todesfälle aus. Über Vorerkrankungen und zusätzliche, zeitgleiche andere respiratorische Infektionen ist für diese Fälle allerdings nichts bekannt. Eine Impfempfehlung für vorerkrankte Kinder und Schwangere besteht bereits. Der Schutz vor Erkrankung durch Impfung bei Kindern ist je nach Influenzasubtyp sehr variabel und wurde in einzelnen Studien mit 40-50 % bestimmt, auch unter Einbeziehung von lebend-attenuiertem Influenzaimpfstoff (LAIV) (_Pediatrics_, 2023; DOI: [10.1542/peds.2022-059922](https://publications.aap.org/pediatrics/article-abstract/151/4/e2022059922/190893/Influenza-Vaccine-Effectiveness-Among-Children?redirectedFrom=fulltext)). Die Erwartung von positiven Populationseffekten der Impfung von Kindern ist in mehrfacher Hinsicht kritisch zu sehen. 1\. Kinder zu impfen, um gefährdete Personen zu schützen, die eigentlich selbst geimpft sein sollten, ist ethisch problematisch. 2\. Influenzainfektionen sind auch bei Geimpften möglich. Es gibt kaum verwertbare Daten über den Effekt und die Dauer des Impfschutzes vor Reinfektionen und Virusausscheidung bei Geimpften. 3\. Möglichst mit Kenntnis der Daten aus Punkt 2 sind Modellierungen erforderlich, die Auskunft über erforderliche Impfquoten für einen gewünschten Populationseffekt (Verminderung der Viruszirkulation) geben. 4\. Will man die Kinderimpfung mit einem angenommenen positiven Populationseffekt begründen (Gemeinschaftsschutz), muss ganz besonders sichergestellt sein, dass keine negativen Auswirkungen einer zum Beispiel jährlichen Impfung zu erwarten sind. Mögliche negative immunologische Auswirkungen sind aber hinsichtlich der Antikörperbildung und T-Zell-Immunität nicht ganz ausgeschlossen (_Pediatrics_, 2023; DOI: [10.1542/peds.2022-059922](https://publications.aap.org/pediatrics/article-abstract/151/4/e2022059922/190893/Influenza-Vaccine-Effectiveness-Among-Children?redirectedFrom=fulltext)). Vor einer generellen Kinderimpfempfehlung sollten daher weitere Daten verfügbar sein.