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Die Gesundheitsfalle (Buchtipp) 27 Jan 2004 13:24 #232717

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Buchtipp

Klaus Dörner: Die Gesundheitsfalle .
Woran unsere Medizin krankt. Zwölf Thesen zu ihrer Heilung. Der Autor geht darin der Frage nach, ob mehr medizinische Leistung statt mehr Gesunde nicht mehr Kranke hervorbringt, weil alles Gesunde in Krankes und damit Behandlungs- bedürftiges verwandelt wird. Denn Ärtzeverbände und Pharmaindustrie predigen eine Heilkunst, die keine gesunden Menschen mehr kennt. Das hier dokumentierte (Anm.: recht lange, BODO) Kapitel ist dem Band entnommen. (ber)


Gesundheit ist ohne Leiden nicht zu haben
(Von Klaus Dörner)

Allerorten wird die Kostenexplosion im Gesundheits- wesen beklagt. Zugleich sind wir nicht mehr in der Lage, zu unterscheiden, was krank oder was gesund ist. Klaus Dörner plädiert dafür, dass Bürger und Ärzte sich darüber verständigen, wie wir dieser Falle und der Ökonomisierung unseres Lebens entkommen können.

Mündige Bürger und mündige Ärzte sollten ein Bündnis gegen die Gesundheitsfalle schließen


***

Eigentlich ist das doch klar: Noch nie hat ein Mensch freiwillig, ohne Not, ohne dass ihm etwas Schmerzliches, Ärgerliches widerfahren wäre, etwas für ihn Wesentliches gelernt, sein Leben verändert, sich etwas Neuem und damit Fremdem ausgesetzt. Natürlich kann dabei jedes Leiden so stark und destruktiv werden, dass es der Anerkennung als Krankheit bedarf, die mir entweder durch Therapie ausgetrieben wird oder mit der zu leben ich lernen muss. Heute ist es aber schwer, bei dem großen Geschäft der Enteignung der Gesundheit nicht mitzumachen, mich nicht aus einem Gesunden in einen therapiebedürftigen Kranken umwandeln zu lassen.

Dazu ein Selbstversuch, den jeder wiederholen sollte: Ich habe aus zwei Zeitungen zwei Jahre lang alle Berichte über wissenschaftliche Untersuchungen zur Häufigkeit behandlungsbedürftiger psychischer Störungen gesammelt, etwa Angst, Depression, Essstörung, Schmerzen, Süchte, Schlaflosigkeit oder Traumata. Danach habe ich die für jede Störung ermittelten Prozentzahlen addiert: Ich kam auf 210 Prozent. Jeder Bundesbürger wäre also wegen mehr als zwei psychischen Störungen therapiebedürftig! Die von den bekanntesten Forschungsinstituten stammenden Studien intendierten bei dem Leser in der Regel zunächst ein Erschrecken über den hohen Prozentsatz der jeweiligen Einzelstörung, um ihn dann wieder zu entlasten, weil es heute doch dagegen die zauberhaftesten Heilmethoden gäbe, fast immer in der Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie, damit auch jeder davon profitieren kann.

Was soll man dazu sagen? Zunächst besteht die Gemeinheit dieser Befunde darin, dass man davon ausgehen kann, dass in jeder Untersuchungsgruppe sich auch einzelne Bürger befinden, für die die Therapiebedürftigkeit voll und ganz zutrifft, und ich kann nicht sicher sein, nicht zu diesen zu gehören. Denn dass man die zugrunde gelegten Auswahlkriterien auch auf solche Bürger ausgedehnt hat, die gar nicht so therapiebedürftig sein können, dieser Unsinn ergibt sich erst aus der Addition. Das Gesamtergebnis, von dem man ja sicher sein kann, dass es so beim besten Willen nicht stimmen kann, ist deprimierend und befreiend. Deprimierend, weil man jetzt weiß, dass es kaum wertneutrale, von ökonomischen Interessen unabhängige Forscher gibt, dass der Therapiebetrieb sinnlos und menschenschädigend aufgebläht ist, und weil man jetzt weiß, wie die Enteignung der Gesundheit, die Kolonisierung der Lebenswelt der Bürger funktioniert. Aber ebenso befreiend, weil ich mich nun auch als Laie mit guten Gründen über die einschüchternde Seriosität von Wissenschaftsbefunden wie von Therapieangeboten lustig machen darf. Zwar darf ich nie das Kind mit dem ganzen Bade ausschütten, doch habe ich jetzt ein gutes Stück gesunder Skepsis, Unabhängigkeit und Wahlfreiheit wiedergewonnen, bin für ein Bündnis gegen die Gesundheitsfalle bündnisfähig, egal, ob ich Bürger oder Arzt bin. Nebenbei bemerkt: Hören wir nicht immer wieder von einem Kostenproblem in der Medizin?

Wie die Umwandlung von Gesunden in Kranke alltäglich funktioniert, hat der internistische Hausarzt Wilfried Deiß aus eigener Erfahrung einfühlsam beschrieben: Insbesondere Ärzte haben ein heimliches Interesse daran, auch leichte Störungen als Krankheiten zu handhaben. Harmlose Muskelverspannungen und Cholesterinerhöhungen werden zu Gründen für regelmäßige Arztbesuche. Bei harmlosen Erkältungskrankheiten werden anstatt Ruhe und Tee diverse mehr oder weniger unwirksame Säfte und Pillen verordnet. Gleichzeitig wird der verhängnisvolle Prozess der Fixierung in Gang gesetzt: Menschen reagieren auch bei leichten Störungen mit übertriebener Sorge und Angst, verlieren das Vertrauen in ihren Körper und glauben fortan, bei jeder nur erdenklichen Störung des Wohlbefindens ärztliche Hilfe aufsuchen zu müssen. Die übertriebene Sorge um die eigene Gesundheit wird hier selbst zur Krankheit. Im Laufe der Jahre geht die Fähigkeit verloren, unabänderliche Störungen hinzunehmen, mit ihnen zu leben, anstatt dauernd und chancenlos gegen sie zu kämpfen. Wir vergessen, dass trotz eines noch so erfolgreichen Medizinsystems das Leiden unabänderlich zum Menschsein dazugehört.

Um die Fallensteller leichter und besser zu erkennen und um uns von ihren Gesundheitsfallen, die inzwischen unseren Weg auf Schritt und Tritt säumen, besser fernhalten zu können, will ich im Folgenden einige von ihnen exemplarisch beschreiben:

1.In den letzten Jahrzehnten ist die Wirksamkeit schmerztherapeutischer Verfahren dramatisch gesteigert worden. Es gibt kaum noch einen Schmerzzustand, dem nicht angemessen begegnet werden kann. Im selben Maße hat sich jedoch die Zahl der Schmerzkranken nicht etwa verringert, sondern im Gegenteil geradezu inflationär vergrößert. Wie ist das möglich? Unabhängig davon, dass beispielsweise mancher Krebskranke auch heute noch frühzeitiger und großzügiger auf Morphinpräparate eingestellt werden müsste, hängt dieses Paradoxon etwa damit zusammen, dass gerade die Therapieerfolge die Erwartung und den Rechtsanspruch auf Herstellbarkeit von Schmerz- beziehungsweise Leidensfreiheit auslösen. Deshalb werden Schmerzen schon bei immer geringerer Intensität nicht mehr als gesund, als normale Befindlichkeitsstörung oder als schicksalhaft erlebt, sondern als immer unerträglicher. (Dabei gibt es übrigens erfahrene Mediziner, die daran zweifeln, ob es heute tatsächlich unerträgliche Schmerzen gibt.) Damit werden die Schmerzempfindungen - eine völlig normale Sinnestätigkeit - nicht mehr als positiv wichtige Signale für Gefahren oder auch nur als Widerstände im Rahmen einer gesunden Lebensführung gewertet, sondern nach der Ethik des Heilens als Krankhaftes und damit von Experten chemisch oder psychisch Wegzumachendes aus dem eigenen Kompetenzbereich ausgegrenzt. Während bisher der eigene Umgang mit Störung, Schmerz oder Leiden auch Quelle einer kreativen Leistung sein konnte, tritt dies jetzt zurück zugunsten dem fiktiven Ideal einer nur noch selbstbezogenen, unendlich steigerungsfähigen Gesundheit als unendlich steigerungsfähige Schmerz- und Leidensfreiheit. All dies wird nun noch dadurch potenziert, dass Diagnostik und Therapie des Schmerzes zu einer eigenständigen medizinischen Fachdisziplin institutionalisiert werden und damit Eigeninteresse gewinnen.

2.Auf ähnliche Weise und mit ähnlich katastrophalen Folgen wird das Terrain des Gesunden auch auf dem Gebiet anderer Störungen fortlaufend verkleinert, das Terrain des Krankhaften also künstlich aufgebläht. Das gilt etwa für den Umgang mit Schlafstörungen, Essstörungen, Angst und Aufmerksamkeitsstörungen (bei Kindern), aber auch für unerwünschte Kinderlosigkeit oder bestimmte Schönheitsmängel.

3.Der klinische Pharmakologe Frank P. Meyer fragt sich: Warum werden gesunde Menschen durch unbiologische und unphysiologische Grenzwerte (Blutdruck, Lipide) in die Nähe von Krankheit und Therapiebedürftigkeit gerückt? Er weist diesen auch durch die Interessen der Industrie bedingten Missbrauch von Patienten nach, etwa für Hochdruckkranke, aber auch für die Hormonbehandlung in der Menopause und für die Behandlung der Altersdementen mit Antidementiva, die zum Teil zwar nicht ganz unwirksam sind, jedoch so wenig wirksam, dass man von einer Wirkung so recht nicht sprechen kann. Hinsichtlich dieses wie auch anderer Felder spricht er von einer Übertherapie. Die mangelnde Zusammenarbeit der Patienten mit den Ärzten (Non-Compliance) als beliebte Erklärung der Ärzte für therapeutische Erfolglosigkeit wendet er gegen die Ärzte selbst, da hier in Wirklichkeit häufig mangelnde Zusammenarbeit der Ärzte mit dem Patienten vorliegt. So formuliert er als anstehendes Lernprogramm: Werden es die Ärzte zu Beginn des 3. Jahrtausends lernen, persönliche Erfahrungen mit wissenschaftlichen Erfahrungen zu verknüpfen, um ihre Patienten rational und individuell behandeln zu können?14

4.Genauso gibt es aber auch eine Überdiagnostik: Denn die Anzahl der an einem Patienten vorgenommenen Untersuchungen entscheidet über die Wahrscheinlichkeit, ob er zum Schluss eine Diagnose haben wird, also ob er zu den Gesunden oder zu den Kranken zu rechnen ist. In diesem Bereich eröffnen die fahrlässigerweise immer noch nicht gesetzlich geregelten prädiktiven Gentests eine neue Dimension: Sie bescheren uns eine bislang noch nicht existierende Bevölkerungsgruppe, nämlich die der Noch-nicht-Kranken, denen man mit einer so verordneten Existenz, gleichsam auf einer Zeitbombe lebend, ihr gesundes selbstvergessenes Weggegebensein wohl erfolgreich ausgetrieben haben dürfte.

5.Während der Moderne (seit 1800) bestand in der Arbeitswelt bei Vollbeschäftigung eine gesunde Mischung von leistungsmäßig Stärkeren und Schwächeren im Sinne der Normalverteilung. Dieses Verhältnis wird spätestens seit 1980 durch eine wettbewerbsbedingte gnadenlose Entmischung ersetzt. Im Arbeitsbereich entstand eine Monokultur der Leistungsstärkeren, während die Langzeitarbeitslosen zunehmend eine Monokultur der Leistungsschwächeren darstellten. Aber die Gesundheit wird zunehmend beiden Monokulturen ausgetrieben, den Stärkeren, weil sie zu viel, den Schwächeren, weil sie zu wenig zu tun haben. Der Psychiater Hinderk Emrich hat dies an Büroarbeitern untersucht, deren Belastung in 15 Jahren um ein Drittel gestiegen ist. Und die Deutsche Angestellten-Krankenkasse verzeichnet in ihrem Gesundheitsreport 2002 einen Anstieg der durch psychische Erkrankungen verursachten Arbeitsfehltage um rund 50 Prozent innerhalb der letzten fünf Jahre.

6.Dieses Entmischungsprinzip hatte aber schon im 19. Jahrhundert gesundheitsschädigende Auswirkungen für alle Beteiligten. Um nämlich alle Erwerbsfähigen aus den Familien der durch die Industrialisierung zum ersten Mal möglich werdenden Vollbeschäftigung zuführen zu können, mussten sie von der Sorge für die sorgebedürftigen Familienmitglieder befreit, ent-sorgt werden. So entstanden flächendeckende Netze sozialer Institutionen für Sieche, geistig Behinderte, Körperbehinderte, psychisch Kranke und Altersverwirrte. So unsichtbar gemacht, gehörten die Sorgebedürftigen und die Verantwortung für sie nicht mehr zu der als gesund empfundenen normalen Lebenswelt. Das führte zu einer Entwertung der institutionalisierten Bürger auf der einen Seite und der Instanzen der bisherigen Sozialgesellschaft (Familie, Nachbarschaft, Kommune) auf der anderen Seite.

7.Ähnlich verhält es sich mit den Alten und Altersverwirrten. Diese haben sich dank des medizinischen Fortschritts zwar erst im 20. Jahrhundert zu einer nennenswerten Bevölkerungsgruppe vervielfacht, manche sagen epidemisch inflationiert, was uns emotional und finanziell überfordere. Für unseren jetzigen Zusammenhang ist es aber wichtiger, dass man noch um 1900 aus dem Krankenhaus zum Sterben nach Hause ging, während man heute in der Regel im Krankenhaus oder im Heim stirbt. Da man zudem in jetzigen Zeiten nicht mehr in jedem Lebensalter gleich wahrscheinlich, sondern fast nur noch im Alter stirbt, gilt auch hier: Sterben und Tod sind institutionell unsichtbar geworden, gehören nicht mehr zur als normal und gesund erfahrenen Lebenswelt. Dadurch konnte mangels sinnlicher, pathischer Anschauung die Angst vor dem Sterben und dem Tod irreal zunehmen - mit allen fatalen Folgen für die Gesundheit, wie etwa dem Wunsch nach aktiver Sterbehilfe oder der mangelhaften Fähigkeit der Bürger, ihr Leben von ihrem Tod, von ihrer Endlichkeit her zu begreifen und sich selbstvergessen wegzugeben: Wer leben will, ohne zu sterben, wird sterben, ohne gelebt zu haben.

8.?Aber auch der andere, noch größere, reale medizinische Fortschrittserfolg, nämlich die therapeutische Beherrschbarkeit vieler Akuterkrankungen, hat das Terrain des Gesunden mehr verkleinert als vergrößert. Denn viele von denen, die früher gestorben wären, leben heute weiter, jedoch oft in der ebenfalls erst im 20. Jahrhundert mengenmäßig neuen menschlichen Seinsweise des chronisch-Krankseins, Tendenz steigend, sodass chronisch Kranke bald den ärztlichen Normalfall darstellen, ohne dass die Medizin schon die dafür angemessene Einstellung gefunden hätte.

9.Seit Rechtsanwälte, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter von der gesetzlichen Betreuung (vormals Vormundschaft) leben können, hat sich in zehn Jahren die Zahl der Betreuten auf etwa eine Million mehr als verdoppelt. Der entsprechende Berufsverband will natürlich weiter expandieren, hält daher sechs Millionen Bundesbürger für betreuungsbedürftig. Ist es dann verwunderlich, dass man von der vornehmsten gesetzlichen Aufgabe der Betreuer, nämlich Betreuungen überflüssig zu machen und eine gesunde Autonomie zu fördern, kaum etwas hört?

10. Die zunehmende Überantwortung der Gesundheit an die Wirtschaft zwingt zur Erschließung immer neuer Märkte. Das Ziel muss letztlich die Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein, also in Menschen, die sich möglichst lebenslang sowohl chemisch-physikalisch als auch psychisch für behandlungsbedürftig halten, um gesund leben zu können. Das gelingt im Bereich der körperlichen Erkrankungen schon recht gut, im Bereich der psychischen Störungen aber noch besser. Denn hier gibt es keinen Mangel an Theorien, nach denen fast alle nicht-gesund sind, vor allem, wenn das vollständige Wohlbefinden fehlt. Das zeigt einmal mehr, wie fragwürdig die analoge Übertragung des Krankheitsbegriffs vom Körperlichen auf das Psychische ist. Wo partout keine Bedürfnisse sind, muss man solche künstlich herstellen, was mit entsprechenden Werbestrategien auch gelingt (An ill for every pill). Auch hierfür einige Beispiele:

oDie Angst, zuständig für die Signalisierung noch unklarer Bedrohungen, ist zwar unangenehm, jedoch vital notwendig und daher kerngesund. Nur durch falschen Umgang mit der Angst (Abwehr, Verdrängung) kann die dann auch krankheitswertige Angst vor der Angst entstehen. In den siebziger und achtziger Jahren jedoch hat man die Angst als Marktnische und damit selbst als erkrankungsfähig definiert und flugs etliche neue Krankheitseinheiten konstruiert - mit vielen wunderbaren Heilungsmöglichkeiten für die dafür dankbaren Patienten. Soziale Phobie ist, da potenziell allumfassend, besonders geeignet, denn wer könnte nicht Schwierigkeiten bei Sozialkontakten haben?

oSeit den neunziger Jahren ist erkannt worden, dass die Depression weltweit unzureichend vermarktet wird. Eine Art Rasterfahndung nach bislang unentdeckt gebliebenen Depressiven - wohlgemerkt profitieren auch immer einige Menschen von solchen Strategien, die meisten nehmen jedoch durch zusätzliche Etikettierung in ihrer Gesundheit Schaden - hat beispielsweise in den USA dazu geführt, dass sich von 1987 bis 1997 die Zahl der wegen Depression Behandelten von 1,7 auf 6,3 Millionen fast vervierfacht hat. In einer sorgfältigen Untersuchung wurde herausgefunden, dass für diesen Sprung nur die aggressive Werbung für Antidepressiva kausal entscheidend war.18

oInzwischen hat die Psychotrauma-Therapie den imperialistischen Anspruch, möglichst alle menschlichen Krisen und Schicksalsschläge durch Traumatisierung (früheres Gewalterlebnis, Missbrauch, Misshandlung) zu erklären und zu therapieren. Auch hiervon können wenige profitieren, während die meisten durch potenziell lebenslange punktuelle Aufmerksamkeitsfixierung auf das Ereignis, das sie zum Opfer gemacht hatte, Schaden nehmen, selbstvergessenes Weggegebensein ist fortan erschwert. Bei jeder Katastrophe sind heute Opfer wie Helfer den öffentlichkeitswirksamen und verstehenswütigen Psychoattacken der Experten praktisch zwangsweise, weil wehrlos, ausgesetzt. Dass jemand einen wirklich schweren Schicksalsschlag am liebsten allein oder mit seinen Nächsten durchleiden will, ist von den Traumaexperten als ungesund entlarvt. Die Medien achten darauf, dass niemand ohne Therapeut bleibt. Nach dem Erfurter Amoklauf blieb einer Schülerin die Äußerung vorbehalten, das Schrecklichste seien eigentlich die Psychologen gewesen, die das Alleinsein mit sich selbst und/oder mit Freunden/Angehörigen mit den raffiniertesten Tricks zu verhindern versucht hätten. Auch noch nach über einem Jahr sind 50 Psychotherapeuten mit den Schülern und Lehrern beschäftigt. Sehr ausgewogen hat Jan Philipp Reemtsma bedacht, selbst einstiges Opfer einer Geiselnahme, wie die an sich begrüßenswerte heutige soziale Zuwendung nicht nur zu den Tätern, sondern auch zu den Opfern, durch zu vorschnelle therapeutische und finanzielle Bemächtigungstechnik wieder entwertet werden könne.

oDurch Thematisierung der beim Schnarchen anfallenden Schlafapnoe ist es in wenigen Jahren gelungen, ein flächendeckendes System von Schlaflabors, die Institutionalisierung einer neuen medizinischen Spezialität und ein Millionengeschäft zustande zu bringen - ein Aufwand, von dem vielleicht ein Zehntel sinnvoll gewesen wäre.

oDer Mediziner Ray Moynihan hat recherchiert, über welche Stufen für die möglichst breite Anwendbarkeit eines neuen Medikaments in der Zusammenarbeit von Industrie und Wissenschaft eine neue Krankheit, die sexuelle Dysfunktion bei Frauen, hergestellt wurde, womit Verhaltens- und Erlebnisweisen, die bisher überwiegend zum Gesunden gehörten, auf einmal zur Krankheit kolonisiert wurden.20

oDass die Anti-Aging-Programme überwiegend ein Geschäft mit der Angst vor dem Altern sind, hat sich schon halbwegs herumgesprochen.


Bei alledem suchen die Gesundheitsfallensteller besonders gern mit wissenschaftlichen top-down-Ködern zu überzeugen, indem sie vom Menschbild des Homo oeconomicus ausgehen, das heißt von Vorgaben theoretischer, planerischer oder wirtschaftlicher Rationalität aus den größten Nutzen für die größte Zahl versprechen. So wird über Empfehlungen von Experten etwas Gesundes als in Wirklichkeit Krankhaftes und daher Besserungsfähiges entlarvt oder es wird von der Steigerungsfähigkeit alles Gesunden ausgegangen. Die bottom-up-Gegenkontrolle, die von der individuellen Erfahrung ausgeht, wird dagegen eher als unwissenschaftlich abgetan. So kann etwa eine wissenschaftliche oder industrielle Innovation höchst segensreich bei einer schweren Ausprägung einer Erkrankung sein; sie wird aber des größeren Marktes wegen auch bei geringerer Intensität derselben Krankheit angewandt, obwohl dies eigentlich nicht indiziert wäre. (Das Antibiotikum bei leichter Grippe ist sprichwörtlich.) Oder man macht ein knappes Gut so attraktiv, dass man stillschweigend davon ausgeht, dass besser informierte, gesprächsfähigere oder kaufkräftigere Patienten es eher ausprobieren wollen, auch wenn sie es nicht brauchen. Dass die Morbidität und Mortalität bei fast allen ernsthaften Erkrankungen auch heute noch in den unteren sozialen Schichten höher ist, weckt dagegen kein wirkliches Interesse. Und unter dem künstlichen, aus biopolitischen Interessen konstruierten Begriff der Lebenswissenschaften hat man, unter Ausgrenzung der hier störenden alten Humanwissenschaften, all die Bestrebungen zusammengefasst, die die natürlichen Grenzen des Menschen sprengen und seine Gesundheit für grenzenlos verbesserungsfähig halten wollen.

Das Bündnis gegen die Gesundheitsfalle hat es also nicht leicht. Ärzte und Bürger sind jetzt aber vielleicht ein wenig aufgeklärt, also mündiger und wissen besser, wie die gefährlichsten Fallen zu erkennen sind.





Der Autor

Prof. Dr. Klaus Dörner, geboren am 22. November 1933, leitete von 1980 bis 1996 die Westfälische Klinik für Psychiatrie in Gütersloh, lehrte Psychiatrie an der Universität Witten-Herdecke und ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie. Seit den 60er Jahren schon kämpfte er für eine Psychiatriereform. Der Arzt und Historiker hat zahlreiche Bücher zur Geschichte der Psychiatrie und zur Medizinethik geschrieben. Er lebt in Hamburg. (ber)


Die Gesundheitsfalle ( Klaus Dörner)
München: Econ Verlag 2003, 200 S., gebundene Ausgabe, 18 Euro, ISBN 3-430-12241-4.

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Re: Die Gesundheitsfalle (Buchtipp) 27 Jan 2004 22:25 #232737

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Was soll jetzt dieser Beitrag, sind wir hier bei DO oder in der Psychatrie?
Deejay

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Re: Die Gesundheitsfalle (Buchtipp) 29 Jan 2004 08:13 #232760

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on 27. Jan 2004 22:25 deejay wrote:
> Was soll jetzt dieser Beitrag, sind wir hier bei DO oder in der Psychatrie?
> Deejay


Ein Psychiater macht noch keine Psychiatrie

Ich bin sicher, genug Leser haben verstanden was er zu den Themen Auswüchse, Verirrungen, Kostenexplosion im Gesundheitssystem zu sagen hat.

BODO

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