@FarmerFiver
Ich finde es auch ausdrücklich richtig, auf den Bedarf abzustellen, und nicht auf die Ausgaben des Einzelnen.
Das Bundesverfassungsgericht ist deiner Ansicht. Nur weiß das fast keiner. Es klingt unglaublich, denn das ist ja nicht irgendein Gericht, dass mal eine sonderbare Ansicht vertritt. wie ein Amtsrichter in Klein Posemuckel. Für Jedermann ist das noch verständlich, dass er aus der Presse den Eindruck gewonnen hat, das Bundesverfassungsgericht habe in einem ersten Urteil, 1 BvL 1/09, den Regelbedarf der Sozialhilfe als frei erfunden kritisiert, nachdem der Gesetzgeber aber nachgebessert hat, in einem zweiten, 1 BvL 10/12 gesagt nun sei er richtig.
Es scheint aber, dass niemand diese zweite Entscheidung richtig gelesen hat. Nichteinmal die zuständigen Fachjuristen. Was das Bundesverfassungsgericht in 1 BvL 10/12 tatsächlich geschrieben hat, ist, dass die Berechnung des Regelbedarfs aus den in der EVS festgestellten Ausgaben, nicht zu beanstanden ist und zwar im Wesentlichen weil der Gesetzgeber die statistisch erfassten Werte abändern kann, wie er will. Gleichzeitig hebt es aber hervor, dass die gesamte erbrachte Leistung einschließlich des Regelbedarfs
im Einzelfall ausreichend sein muss. Das berücksichtigt aber nahezu kein Gericht. Ich kenne genau eine Anwältin, die das überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Diese beschreibt den Ist- im Vergleich zum Sollzustand wie folgt
"Auch der Beschluss L 18 AS 405/16 B PKH liefert nichts Neues, denn er folgt im Wesentlichen den Argumentationsschemata zahlreicher vorhergehender Entscheidungen (vgl etwa LSG NRW L 19 AS 2235/16 B vom 01.12.2016, LSG FSB L 11 AS 529/17 NZB vom 23.08.2017), mit dem ich mich schon im Verfahren L 8 SO 2/13 insbesondere im Schreiben v 20.06.20126 eingehend auseinandergesetzt hatte. Ich verweise daher auf diese Darlegung und beschränke mich für dem Moment auf eine Übersichtsdarlegung.
Alle diese Entscheidungen gehen im Kern wie folgt vor
1. Das BVerfG habe in 1 BvL 10/12 v 23.07.2014 entschieden, die Normen zur Festlegung der Regelbedarfe seien mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG derzeit noch vereinbar (Abs 73 C.)
2. Dementsprechend seien die einfachgesetzlichen Regelungen bindend und der korrekte Regelbedarf ergebe sich hieraus.
3. Eine Bedarfsfeststellung ob der Regelbedarf tatsächlich im jeweils vorliegenden Einzelfall die Bedarfe des Hilfebedürftigen decke, könne daher unterbleiben, da dies zu keiner Änderung der schon nach Nr 2 einfachgesetzlich festgelegten und nach Nr 1 verfassungsrechtlich unbedenklichen Regelbedarfshöhe führen kann.
Tatsächlich ist die derzeitig verfassungsrechtliche Situation jedoch wie folgt
1. Entscheidend ist, dass die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden (1 BvL 10/12 v 23.07.2014 Abs 77). Entscheidend ist, dass im Ergebnis eine menschenwürdige Existenz tatsächlich gesichert ist (Abs 93), d h entscheidend ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nur, dass existenzsichernde Bedarfe insgesamt tatsächlich gedeckt sind (Abs 115). Verfassungsrechtlich ist allein entscheidend, dass für jede individuelle hilfebedürftige Person das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ausreichend erfasst wird (Abs 140).
2. Da es alleine auf die insgesamt tatsächlich ausreichende Versorgung des individuellen Hilfebedürftigen ankommt, ergibt sich denknotwendig, dass keine abstrakte Prüfung der Verfassungsmäßigkeit möglich ist, sondern nur im konkret vorliegenden Fall geprüft werden kann, ob diese gegeben ist.
3. Dass die Regelbedarfsfestlegung mit der Verfassung vereinbar ist, ist somit nur der (damals) gegenwärtige Stand, basierend auf den dem BVerfG bislang vorliegenden Fällen.
4. Insbesondere lässt sich somit aus der Entscheidung nicht ableiten, der Regelbedarf sei schon „aus Rechtsgründen“ (der Gesetzesbindung verfassungsgemäßer Normen) nicht erhöhbar.
Im SGB XII hat diese Situation insbesondere zur Folge
5. Nicht jeder im Einzelfall nachgewiesen erhöhte Gesamtbedarf der nicht anderweitig gedeckt werden kann und die Regelbedarfsfestsetzung überschreitet beweist die a) Verfassungswidrigkeit der Regelbedarfsfestsetzung, jedoch zeigt er, dass entweder dies zutrifft oder b) die Behörde bei richtiger Auslegung des einfachen Rechts unter Beachtung der Verfassungsvorgaben den Regelsatz individuell erhöhen hätte müssen und/oder c) eine extensive verfassungskonforme Auslegung von Ausweichnormen wie etwa § 72 SGB XII oder eine analoge Anwendung nicht direkt anwendbarer Normen wie etwa § 21 Abs 6 SGB II aufgrund einer systemwidrigen Regelungslücke geboten ist (vgl Abs 125 Im Einzelfall sind Bedarfe, wenn keine anderweitige Deckung besteht, über die verfassungskonforme Auslegung einfachen Rechts zu sichern).
Die vermeintlichen „Prüfungsgrundsätze“ aus der Vorgängerentscheidung 1 BvL 1/09 vom 09.02.2010, dass etwa bereits Begründungsmängel zur Verfassungswidrigkeit führen können, denn bestünden solche, so „steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang“ (Abs 144, so etwa irrtümlich Rixen, Stephan in Sozialrecht aktuell Vol15 4/2011) existieren nicht. Tatsächlich war auch damals nur gefordert, der Gesetzgeber müsse die Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen um eine verfassungsgerichtliche Kontrolle zu ermöglichen. Wenn diese Kontrolle Mängel ergibt, so heißt das allerdings nur, dass Mängel bestehen und sagt nichts über die Verfassungswidrigkeit aus. Der Gesetzgeber muss die Information zur Verfügung stellen, damit die Mängel sichtbar gemacht werden können, er muss die nunmehr sichtbaren Mängel aber nicht notwendig beheben. Versuche, die Regelbedarfe alleine anhand ihrer unbehobenen oder unzureichend behobenen methodischen Mängel – die zweifellos nach wie vor in großer Zahl existieren, vgl. nur Becker/Münder, Soziale Sicherheit Extra September 2011, Becker, Irene. Der Einfluss verdeckter Armut auf das Grundsicherungsniveau, Januar 2015, dies., Regelbedarfsbemessung: Gutachten zum Gesetzentwurf 2016 – als verfassungswidrig nachzuweisen, müssen notwendig scheitern und sind folglich im Rechtssinne aussichtslos. Ebenso aussichtslos ist der Versuch durch Vorlage eigener sachgerechter Statistiken darzulegen wie hoch der Regelbedarf zu sein habe, da der Gesetzgeber nicht zur Verwendung sachgerechter Schätzungen verpflichtet ist (Abs 105).
Es liegt vielmehr nunmehr im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, bei Begründungsmängel erforderlichenfalls geeignete Nacherhebungen vorzunehmen, Leistungen auf der Grundlage eines eigenen Indexes zu erhöhen oder Unterdeckungen in sonstiger Weise aufzufangen (1 BvL 10/12, Abs 143). Dazu gehört auch ein sich-darauf-Verlassen durch den Gesetzgeber, dass die bereits bestehenden Leistungsmöglichkeiten ausreichen, wenn sie von den Gerichten in verfassungskonformer Weise extensiv ausgelegt werden. Die Verfassungsmäßigkeit der Regelbedarfe kann nur im Zusammenspiel mit allen anderen in Frage kommenden Leistungen aller Leistungsbereiche gesehen werden (1 BvL 10/12 Abs 115 ff). Das einzige verbleibende Kriterium ist auch hier das Ausreichen der Gesamtleistungen einschließlich des Gesamtregelsatzes für den nicht anderweitig gesicherten Gesamtbedarf (Für die Feststellung einer evidenten Unterdeckung im Einzelfall vgl etwa LSG NSB L 11 AS 1503/15 v 11.12.2017).
Das Vorgehen der Gerichte in Entscheidungen wie L 18 AS 405/16 B PKH stellt somit die Vorgaben des BVerfG auf den Kopf. Statt wie von diesem vorgesehen eine Bedarfsermittlung des individuellen Hilfebedürftigen an den Anfang zu stellen und nach verfassungskonformer Auslegungen bestehender Normen zu suchen, die geeignet sind den bestehenden Bedarf zu decken, wird diese für „aus Rechtsgründen“ völlig entbehrlich gehalten. Damit wird nicht nur die zu fordernde Prüfung der Verfassungsmäßigkeit im Einzelfall unterlaufen, sondern auch der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und das Rechtswegerschöpfungsgebot, deren Zweck ist, dass dem BVerfG regelmäßig in mehreren Verfahren von den Fachgerichten geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet wird (2 BvR 209/84 v 13.01.1987). Schon die Formulierung des BVerfG, die Regelbedarfe seien „noch vereinbar“ (Abs 73) legt nahe, dass der Vergleich knapp war, der dazu führte, sie für vereinbar zu halten. Es ist daher durchaus denkbar, dass selbst ein geringer ungedeckter aber unabweisbarer Mehrbedarf die Grenze überschreiten kann. Die Amtsermittlungspflicht umfasst auch eine Prüfung auf Verfassungsmäßigkeit (2 BvR 209/84 v 13.01.1987)."
Ich bitte um Verzeihung für das lange Zitat und die schwere Kost, aber ich kann es sicherlich selbst nicht besser begründen. Von mir laienhaft zusammengestellt heißt das schlicht, die Sozialgerichte betreiben mit der zweiten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Rosinenpickerei. Das die Statistik nicht zu beanstanden ist, nehmen sie gerne, dass der Grundsicherungsträger aber in jedem Einzelfall prüfen muss, ob der Bedarf tatsächlich gedeckt ist, lassen sie unter den Tisch fallen.