Spät, aber besser spät als nie...
Ich bin 46 und seit 6 Monaten Niere/Pankreas transplantiert. Meine Grunderkrankung ist/war ein seit 40 Jahren bestehender Diabetes mellitus Typ 1.
Das bedeutet, ich habe meinen DM mit 6 Jahren vor der Einschulung in der diabetologischen Steinzeit bekommen.
Mitte zwanzig wurden bei erste Spuren von Mikroalbumin gemessen, Ende zwanzig wurden die Werte schlechter, die Therapie der Wahl bei Diabetikern sind dann ACE-Hemmer, die neben der blutdrucksenkenden auch eine nephroprotektive Wirkung haben. Weil ich zu dem Zeitpunkt eine autonome Neuropathie am Herzen entwickelt hatte, konnte ich die nicht so hoch dosiert nehmen, wie man es gern gehabt hätte (die Neuropathie hat zur Folge, dass die Kreislaufregulation nicht auf Lageänderungen reagiert; wenn jemand aus dem Sitzen aufsteht, steigt normalerweise der Puls, um den Blutdruckabfall durch das nach unten sackende Blut zu kompensieren; funktioniert bei mir nicht, also habe ich nach dem Aufstehen einen niedrigen Blutdruck, mein Rekord liegt bei 60/40 mmHg).
2006 hat mir mein damaliger Nephrologe vorgerechnet, dass ich in 1 1/2 Jahren vermutlich dialysepflichtig sein würde. 2007 war dann das Studium gegen die Wand gefahren, mit meinen Blutdruckproblemen konnte ich kaum eine Minute aufrecht stehen. Meinen vorherigen Ausbildungsberuf als PTA konnte ich nicht wieder aufnehmen, weil das eine überwiegend stehende/gehende Tätigkeit ist. Nach einer Pause, in der ich versucht habe, einen Job als PTA in der Industrie zu finden (meist sitzend), habe ich dann mein Hobby zum Beruf gemacht und arbeite als Softwareentwicklerin.
Bei Typ1ern beträgt die Sterblichkeit 3 Jahre nach Eintritt der Dialysepflicht 50%.
Ich hatte meinen damaligen Nephrologen mehrfach, das letzte Mal Ende 2015, auf das Thema Transplantation angesprochen; auf meine konkrete Frage nach Pankreas/Niere bei Diabetes Typ1 meinte er 2015, eine Listung sei erst ab ersten Tag der Dialyse möglich, das sei ja auch moralisch anders nicht vertretbar.
Seit 2011 ist diese Listung möglich bei einer fehlenden Hypoglykämiewahrnehmung, seit 2016 ab eienr GFR unter 30. Ich hatte 2010/2011 insgesamt 10 schwere Unterzuckerungen, ab zweien steigt das Risiko für terminale Herz/Kreislaufzwischenfälle exponentiell an.
Ein Schelm, wer schlechtes dabei denkt: Der Betreiber der Dialysepraxis, in der er tätig ist, ist Fresenius.
(
slideheaven.com/geld-und-dialyse.html)
Nun gut, seit 2016 habe ich einen anderen Arzt, Anfang 2016 war die Voruntersuchung zur Listung; dabei wurden mit 2 Stents gesetzt und ich musste ein halbes Jahr einen zusätzlichen Gerinnungshemmer nehmen und war in der Zeit zwar gelistet aber mit Status NT.
Mitte 2017 kam dann am einem Nachmittag um halb 5 ein Anruf vom Tx-Zentrum mit einem Organangebot; ab nach München, Röntgen, Labor, OP-Hemd... um halb neun kam die Chirurgin mit der Nachricht, dass das Pankreas nicht mehr transplantabel war. Ab nach Hause.
Anfang März, morgens um halb vier, ein Anruf mit einem Organangebot; ab nach München, Röntgen, Labor, OP-Hemd; wir haben schon gewitzelt, was wir frühstücken, wenn es wieder nichts wird. Dann: "es geht los - möchten Sie eine Tablette zur Beruhigung?" - "echt?"
Die OP hat lange (nach meiner Meinung) gedauert, siebeneinhalb Stunden, aber es waren ja auch zwei Organe, alles lief gut, die Organe haben direkt die Funktion aufgenommen. Neun Tage hat die neue Niere fleißig geackert, dann waren meine Werte in der Mitte ihrer Normbereiche. 14 Tage später hat man mich wieder aufgemacht, weil ich steigende Blutzucker- und erhöhte Amylase-, Lipase-Werte hatte, Hinweise auf eine mögliche Abstoßung, außerdem eine Flüssigkeitsansammlung am Pankreas.
Ergebnis der Op: Der Blinddarm hat auf das Pankreas gedrückt, mein Körper hat eine eitrige Zyste gebildet, im CT wurden außerdem Gerinnsel am Transplantat-Pankreas festgestellt, die Biopsien beider Organe zeigten leichte Abstoßungen. Also Zyste und Blinddarm raus, einmal durchspülen und danach massiv Cortison und Gerinnungshemmer. Weil das Ganze die zweite Narkose (und OP) in so kurzer Zeit war, habe ich deutlich länger gebraucht, wieder auf die Füße zu kommen. Außerdem war die neue Niere sehr aktiv und hat am Anfang täglich etwa 4 Liter ausgeschieden. Kommentar vom Arzt: dann müssen sie mehr trinken.
Nach 4 Wochen insgesamt wurde ich entlassen, zwei Organe mehr im Körper, 6 Kilo Gewicht, davon 3,5 Kilo Muskulatur, weniger.
Die Muskulatur deshalb, weil ich fast nur gelegen habe und das passende Alter habe, dass der Körper bei Inaktivität knallhart abbaut. Danach 5 Tage zuhause, 3 Wochen Reha in Bad Heilbrunn, wo man mich wieder einigermaßen auf die Füße gebracht hat. Nach zwei Wochen zuhause habe ich dann mit meiner Wiedereingliederung begonnen; seitdem arbeite ich wieder normal.
Auf den Tag 4 Monate nach der Tx fing bei mir der Haarausfall an, kräftig und schnell und es gehört(e) nicht viel Hochrechnen dazu, wo das in wenigen Wochen sein würde. Ich habe also aktuell eine recht sommerliche Frisur mit hoher Stirn und sehr freien Seiten, die verbliebenen Haare reichen meistens aus, die restliche Kopfhaut zu bedecken. Vor einer Woche war meine Halbjahreskontrolle. Alles sieht gut aus, CMV- und BKV-Prophylaxe sind abgesetzt und ich wurde umgestellt auf Advagraf, das hoffentlich weniger nierenschädlich ist als Prograf.
Ich war schon vor der Tx mit der Entwicklung zufrieden; ich hatte diabetesbedingt 42 Augen-OPs, konnte zeitweise nicht einmal mehr lesen, und verdiene mein Geld an einem Bildschirmarbeitsplatz; ich kann Lesen, Fotografieren, Programmieren, mich im Frühling an zig Sorten Grün freuen; ich hatte drei Schlaganfälle, bei zweien musste ich das Sprechen trainieren, und merke davon nichts mehr, bin im Büro auch im Hotline-Team für eine von uns betreute Software. Ich bin knapp an einem Herzinfarkt vorbeigeschrammt und treibe aktuell täglich Sport, um meinen Körper halbwegs wieder fit zu bekommen. Nach der Tx bessern sich einige der diabetischen Neuropathien langsam, ich kann keine Unterzuckerungen mehr bekommen - und ich kann nicht nur 50, sondern 60, 70 oder älter werden, wenn ich mich nicht zu blöd anstelle.
Über meinen Spender weiß ich recht wenig, ich schätze erwar männlich, weil die Niere recht groß ist und meine Werte sehr gut (männliche Nieren sind effektiver, deswegen ist die Variante Spender an Empfängerin von den Werten meist erfolgreicher als umgekehrt); weil sein Pankreas verwendet wurde, war er nicht allzu alt, vermutlich jünger als ich, was bedeutet, er ist wohl keines natürlichen Todes gestorben; er war CMV positiv, ich negativ, deswegen die CMV-Prophylaxe, und er ist direkt in München gestorben. Deswegen gab es eine recht kurze kalte Ischämiezeit, etwa wie bei einer Lebendspende. Er kann kein schlechter Mensch gewesen sein, er hat zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass sein Tod nicht sinnlos sein wird.
vG
Anja